„Literatur bietet die Möglichkeit, tabuisierte Fragen aufzuwerfen“
Regina Klein, Gewinnerin des diesjährigen KSV-Literaturpreises, im Interview.
Regina Klein bei der Preisverleihung am 11. November im Musilhaus. Foto © KSV/ Nina Hader
Du bist promovierte Sozial- und Kulturwissenschaftlerin, hast bereits zahlreiche wissenschaftliche Werke verfasst, aber auch Essays, Kurzgeschichten und Kurzdramen. Gibt es eine Form, in der du dich besonders zu Hause fühlst?
Als ich vorwiegend wissenschaftliche Texte schrieb, mochte ich am liebsten Essays, in denen ich aufbauend auf biographischen Interviews mit Zeitzeug:innen, gesellschaftsrelevante Fragen aufwarf.
Wenn ich mich heute zu verorten versuche, würde ich sagen, dass ich „autofiktionales“ Schreiben liebe. Dabei verwebe ich biographische Erfahrungen meist mit ausgiebiger Recherche und dann mit fiktiven, auch fantastischen Elementen. Was wäre, wenn … es vielleicht doch ganz anders gewesen wäre und sein wird?
Literarisches schreiben, ob Kurzgeschichten, Dramen, personal Essays, erlauben mir zu spielen – mit dem was gewesen ist, was da ist, noch-nicht ist, doch einmal sein könnte. Und das macht mir sehr viel Spaß.
In deiner Kurzgeschichte „Das Mundstück“, für die du gerade mit dem Literaturpreis des Kärntner Schriftsteller:innen Verbandes ausgezeichnet wurdest, geht es um Erinnerungskultur, um brüchige Vergangenheiten und um die Frage, wer man ist – und wie viel dieses Selbstverständnis mit der eigenen Herkunft zu tun hat. Ist das ein Thema, das dich in deinen Texten öfters beschäftigt?
Auf jeden Fall! „Ohne Herkunft keine Zukunft“, ein Satz des Philosophen Odo Marquardt, hat sich tief bei mir eingeschrieben. Damit auch der Wunsch, zu wissen, woher jemand kommt, wohin jemand geht und wohin jemand gehen wird. Vergangenheit und Zukunft sind miteinander verwoben, verlebendigen sich in der Gegenwart. Wenn entscheidende Erfahrungen vergessen, wegegeschoben, verdrängt werden; wenn Dinge nicht ausgesprochen, verheimlicht, verändert oder umgedeutet werden, hat dies vielfältige Effekte auf die individuelle Identität eines Menschen, auf die kulturelle Identität einer Gruppe, auf gesellschaftliche und politische Verhältnisse.
Literatur bietet die Möglichkeit – mit Zwischentönen, mit Auslassungen, mit queren Bildern – schwierige, unausgesprochene bis tabuisierte Fragen aufzuwerfen, ohne sie selbst bis ins I-Tüpfelchen beantworten zu müssen. Es bleibt den Lesenden überlassen, wie sie sich damit auseinandersetzen.
Deine Geschichte spielt in Unterkärnten, in der Gemeinde Bleiburg. „Auf’n Leugach will schon lang keiner mehr!„, meint der Busfahrer, als die Protagonistin ausgerechnet hier aussteigen will. Auch die „Bleiburger Tragödie“ gerät langsam in Vergessenheit. Kannst du unseren Leser*innen etwas über das geschichtliche Ereignis erzählen, auf das du dich in deiner Geschichte beziehst?
Die Geschichte spielt in Unterkärnten, ja. Sie könnte aber auch woanders sein, jetzt gerade, früher, oder in Zukunft. Leider.
Die Ortsnamen sind verfremdet. Hintergrund meines Textes sind die tragischen Geschehnisse am Loibacher Feld, wo sich vor dem kommunistischen Regime flüchtende Jugoslawen (geschätzt: eine Viertelmillion, die Kolonne soll 45 bis 65 Kilometer lang gewesen sein) im Mai 1945 der dort stationierten britischen 8. Armee übergaben; das fatale Auslieferungsabkommen der Briten mit Tito und die Verschickung der Flüchtlinge zurück, LKW-Transporte, Todesmärsche, Lageraufenthalte, Folterungen mit Hinrichtungen bisin die Vojvodina hinein; die bis heute „frischen“ Knochenfunde in Massengräbern in dunklen Karstspalten usw.
Es ist eines der kontrovers diskutiertesten Kriegsverbrechen am Ende des 2. Weltkriegs. Wer, wieviele, warum und durch wen umgekommen ist, ist nach wie vor umstritten.
Die „Erinnerungskultur“ daran schaukelt sich in einer „Täter/Opfermythos“-Spirale stetig weiter hoch: eine nationalistisch instrumentalisierte Gedenkkultur, teils religiös überhöht, Kreuzweg, Golgatha gepaart mit Naziaufmärschen, Gegendemonstrationen, Verboten der Gedenkfeiern, Gegendemonstrationen dazu usw., usf. An dieser kurzen Skizze wird sichtbar, wie differenziert und mehrperspektivisch eine historische Studie sein müsste, würde ich als Wissenschaftlerin schreiben. Beim wissenschaftlichen Schreiben ist es ein MUSS, das davor/dahinter und das, um was es geht, genau(stens) zu recherchieren und dann dem Lesenden genau(stens) darzulegen. Das bin ich gewohnt, habe ich jahrelang geübt, da fühle ich mich zu Hause.
Dieses gewohnte und vertraute Terrain wollte ich mich trauen, radikal zu verlassen. Und habe all die Ereignisse, die zu dem führen, was in meiner Geschichte JETZT ist, was mit Caro ist, warum sie an ihren Heimatort zurückgekehrt ist, warum Caro nach etwas sucht, nach was sie überhaupt sucht und vor allem, das, was sie (heraus)gefunden hat, NICHT benannt. Sondern habe versucht, über Auslassungen, Andeutungen, Sprachbilder, Verdichtungen, Ahnungen zu streuen, eine Art Zwischenwelt aufzumachen.
Eine Zwischenwelt, in der Lesende mit mir als Schreibender und mit Caro durch den Ort rennen und etwas zu fassen versuchen, das unfassbar ist und immer wieder verfehlt wird, wenn es in ein plattes „Täter/Opfer“-Schema, oder in ein „da die Bösen/hier die Guten“- Schema gepresst wird.
Eine Zwischenwelt aufzumachen, in der Lesende mitschwingen, mitfühlen, mitgetragen werden und sich ihre eigene „Zwischen“-Geschichte dazu selbst zusammenreimen können.
Als ich vor Jahren am Loibacher Feld war, habe ich lange geschaut, habe dem Wind zugehört, wie er durch die Grashalme strich, durch die Bretter der Holzverschalung des Gedenkaltars pfiff, habe mich über das satte Grün der Wiese gewundert und wie unschuldig alles da lag, im Sonnenlicht und vor einer atemberaubenden Bergkulisse. Habe mich gefragt, was eine alte Frau sieht, die damals Augenzeugin war, wenn sie heute darauf schaut – aus dem Schutz des Fenster ihres Hauses aus oder auf dem „Brückl“ sitzend, dem Gewandgang zwischen Innen und Außen. So ist die Geschichte entstanden.
In deiner Geschichte begegnen wir Paul, dem letzten Wanderschäfer der Region, und sofort haben wir das Gefühl, direkt neben ihm zu stehen, ihn sogar zu riechen. Überhaupt ist dein Text sehr atmosphärisch.
Das freut mich zu hören, danke! Genau das meine ich mit Zwischentönen und Zwischenwelt – ein atmosphärisches Mitschwingen.
Du leitest kreative Schreibwerkstätten, daher meine Frage: Welchen Tipp hast du für Schreibende, um (eine) Geschichte nicht einfach nur zu erzählen, sondern Lesenden das Gefühl zu vermitteln, selbst vor Ort zu sein?
Die Frage ist nicht einfach, denn es gibt so unendlich viele kreative Schreibimpulse und -rezepte. Ich lasse mich gerne von meinen Schreibgruppen mitnehmen und erarbeite daraufhin passende Übungen, sozusagen aus dem Potential der Gruppe heraus.
Ein genereller Tipp ist, beschreiben zu üben. Und zwar assoziativ im Modus des „Free Writing“, dabei jedoch sehr konkret – mit nur einem Sinn, mit zwei/vier/allen Sinnen. Wie sieht ein Ort, eine Figur aus, was höre ich, was fühle ich, was schmecke ich, wie wirkt es auf mich?
Und dann der schwierigste Part: den Mut zu haben, all die schönen Beschreibungen, die ich dafür auf das Blatt Papier gebracht habe, auch wieder zu löschen; den Mut, all das wegzulassen, was Lesenden erklärt, wie die Sache ‚richtig‘ zu verstehen ist; den Mut einen Denkraum offenzuhalten, in der Lesende einsteigen und herumtollen können, vielleicht ganz andere Fährten aufnehmen und eigene Spurensuchen beginnen.
Unerhörtes/Ungehörtes in Worte fassen ist dabei so etwas wie mein Leitthema.
Du bist keine gebürtige Kärntnerin, sondern wurdest in Hessen geboren. Hast du das Gefühl, dass du dadurch Vorteile hast – weil du neutraler auf die Geschichte Kärntens blicken kannst?
Ich weiß nicht, ob es als Vorteil bezeichnet werden kann, aber wir kennen das ja alle. Wenn wir irgendwo fremd sind und versuchen zu verstehen, was in einer bestimmten, uns vorher nicht bekannten Gruppe (Sport-, Kirchen-, Was-auch-immer-Verein) bzw. einer bestimmten, uns fremden Kultur vor sich geht, sind wir manchmal irritiert, können manche Dinge nicht so schnell einordnen, wie wir es bei uns Bekanntem, bei uns Vertrautem gewohnt sind. Unsere Selbstverständlichkeiten der „Welterklärung“ funktionieren nicht mehr so einfach. Wir sind zum einen gefordert, uns selbst und unsere Haltungen in Frage zu stellen. Zum anderen stellen wir als Fremde zwangsläufig Fragen, die das Vertraute, das Gewohnte, das „Ach-so-Selbstverständliche“ der Gruppe erschüttern. Ein wechselseitiger Prozess, in dem bei allen Beteiligten eine Reflektion gewohnter, „althergebrachter“ „Das-war-schon-immer-so“-Muster aufgeworfen wird und im besten Fall zu positiven Veränderungen führt.
Und wie geht es dir mit den regionalen Sprachen? Fließen regionale Färbungen oder auch Dialekte manchmal in dein Schreiben ein?
Ja, ich bin ein „Hinterländer Madche“ und aufgewachsen im Dialekt. Erst mit Eintritt in die Schule habe ich Hochdeutsch gelernt. Jedes Dorf hatte seinen eigenen Dialekt, zwei Kilometer weiter waren Klangfarbe und Wortwahl schon wieder ganz anders. Doch ich spreche heute nur noch mit wenigen (älteren) Menschen aus meine Herkunftsregion in meinem Dialekt. Er ist vom Aussterben bedroht, was ich sehr bedauere. Denn Dialekt malt in Farben, wo die Hochsprache nur schwarze Umrisse zeigt. Man riecht, schmeckt, fühlt etwas, ganz direkt und unmittelbar dockt es am Körper an. Es gibt z.b. kein Wort für „lieben“ oder für „erziehen‘“– das wird in Sprachbildern oder situativ-szenisch ausgedrückt. Vielleicht kommt daher meine Affinität zu bildhaften Zwischentönen, die vieldeutiger sind als konkret-abstrakte Begriffe, die Spielräume öffnen und dadurch utopisches Potential in sich tragen – wie die Literatur selbst.
Gibt es ein Projekt, an dem du derzeit arbeitest und magst du uns mehr darüber verraten?
Ich schreibe an einem Roman. Und ja, vor einem halben Jahr hätte ich das noch nicht preisgegeben, doch mittlerweile habe ich knapp zwei Drittel und derzeit nimmt er sehr an Fahrt auf. Also irgendwie muss er fertig geschrieben werden, ruft geradezu danach.
Nur so viel: Ruth, die Hauptprotagonistin ist auf der Suche nach der Wahrheit, kehrt widerwillig in ihren Heimatort zurück, rennt dort gegen Mauern des Schweigens und offene Türen ein. Das Thema kennen wir ja schon :-). Ihre Wahrheitssuche führt sie vom Hessischen Hinterland über Österreich nach Japan. In diesem ein Jahrhundert umspannenden Roman werden abgedunkelte Kapitel der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte aufgeschlagen und anhand einer generationenübergreifenden Familiengeschichte über Ländergrenzen hinweg miteinander verwoben.
28.11.2024.
Die Fragen stellte Margarita Kinstner
Hinweis:
Während der Bachmanntage 2024 fand das Lesefest Neue gute Züge statt, in dem bisher noch nicht gehörte, unerhörte Erzählstimmen zu Wort kamen. Dieses Lesefest, das auch im Jahr 2025 wieder stattfinden soll – diesmal unter dem Thema: „Fremd sind wir uns selbst“ – ist eine Initiative des von Regina Klein ins Leben gerufenen Schreibkollektivs ‚Writer’s Space‘, einem Zusammenschluss von freien Schreibtrainer:innen in Kärnten
Parallel bietet der ‚Writer’s Space‘ mit dem Schreib(t)raum eine offene Schreibgruppe für alle, die schreiben wollen. Sie findet alle zwei Wochen, immer Donnerstag, in der Villa for Forest, Klagenfurt statt und wird von wechselnden Schreibtrainer:innen angeleitet.
Nähere Informationen zum nächsten „Schreib(t)raum“, diesmal unter der Leitung von Maria Hoppe, findet man hier: